Blätterteig und Völkerball

Eine Kindheit im Schatten des Stanserhorns

Mit einem Vorwort von Peter von Matt

 

Ein Schmiedgässler erzählt aus seiner Kindheit in den fünfziger und sechziger Jahren und zeichnet ein Zeitbild des damaligen Stans.

 

Im Januar 1956 übernahmen die Eltern von Tony Ettlin die Bäckerei zum Pfauen in der Schmiedgasse in Stans. In seinem Buch «Blätterteig und Völkerball», das im September 2007 im Limmatverlag, Zürich erscheint, erzählt Tony Ettlin zuerst von den ersten Jahren auf dem Bauernhof «Polizeihostatt», der später dem Einkaufszentrum «Länderpark» weichen musste. Trotz kargen Lebensbedingungen werden Bilder einer heilen Welt in einfachen Verhältnissen gezeichnet. «Wir haben nicht viel, aber wir machen das Beste daraus», ist ein Leitspruch von Vater Ettlin. Sein unternehmerischer Ehrgeiz trieb ihn jedoch weiter und als die Bäckerei in der Schmiedgasse zu kaufen war, stieg er ein. Tony entdeckte die fremde, schattige Welt der Schmiedgasse, erlebte den Existenzkampf seiner Familie und wuchs in die Gemeinschaft der «Freien Republik Schmiedgasse» hinein. Er beschreibt das Leben in der Bäckerei, die Spiele auf der Gasse, die Schmiedgasschilbi und die Originale die die Gasse belebten. Der Sommer, den er auf der Alp «Biel» oberhalb Beckenried verbrachte, war geprägt vom Schweigen der Aelpler, dem Heimweh und der Angst beim Wildheuen an den steilen Flanken des Schwalmis. Tony Ettlin berichtet aber auch aus der Schule, von der Gewalt überforderter Lehrer und auf dem Pausenplatz, vom Dorfleben, vom ganzen Kosmos des Dorfes in den fünfziger und sechziger Jahren, nie beschönigend, aber auch nie denunzierend.

 

Hier sind ein paar Leseproben:

 

Einzug in die Freie Republik Schmiedgasse

Es war ein grauer Wintertag. Wir fuhren mit dem Fuhrwerk in die enge Schmiedgasse ein. Fremde Leute glotzten uns an. Es war schattig und kalt als wir vor dem grossen Haus mit der verwitterten Fassade hielten. «Bäckerei Lussi-Geisser» stand an der Wand unter dem ersten Stock angeschrieben. Zwischen dem ersten und zweiten Stock war ein Pfau an die Wand gemalt. Alles war fremd und hatte nichts mit mir zu tun. Während die Männer, die uns beim Zügeln halfen, die Möbel ins Haus trugen, stand ich in der dunklen, kalten Stube und weinte. Ich fror, hatte Angst und sehnte mich nach der sonnigen und vertrauten Welt im Niederdorf. Mein Vater versuchte mich zu trösten und schenkte mir zwei geschnitzte und bemalte Holzkühe. Es half nichts. Auch der Rundgang im untern Stock durch die Backstube, die Konditorei und den Laden konnte mich nicht aufheitern. Erst als die ganze Familie in der Stube im ersten Stock mitten in den noch zerlegten Möbeln am Tisch sass und ein einfaches Nachtessen einnahm, verflog die Trauer, und ein Funken Hoffnung, dass doch alles gut werde, glühte auf.

 

Stumme Zweisamkeit auf der Alp

Onkel Walti war ein wortkarger, gutmütiger, aber auch etwas verschrobener Dickkopf. Ich glaube, er haderte ständig mit seinem Schicksal und genoss die Arbeit auf der Alp nur halbherzig, obwohl er oft beteuerte, dass er nichts anderes lieber machen würde. Er kämpfte um seinen Platz als Älpler, wenn einer seiner Brüder ihm diesen streitig machen wollte. Aber im Alpalltag wirkte er meistens missmutig und verschlossen, und das irritierte mich als Knirps. Ich wusste nie, ob ich der Grund für seine schlechte, brummelige Laune war. Wenn es vorkam, dass mir ein Missgeschick passierte und ich einen Eimer voll Milch verschüttete, fluchte er kurz, mahnte mich zu mehr Vorsicht und zog sich dann in sein trotziges Schweigen zurück. Ich konnte nicht abschätzen, wann der Zorn über meine Ungeschicklichkeit und die verlorene Milch verraucht war, da sich sein Gemütsausdruck nicht von dem gewohnten Anblick unterschied.

 

So richtete ich mich in meiner eigenen schweigsamen Welt ein, machte die mir aufgetragene Arbeit, trottete hinter Walti her, half ihm beim Melken, Hagen, Wiesen ausbessern, Steine zusammentragen, Rinder beobachten und heuen an den abschüssigen Hängen des Schwalmis. Tage vergingen, ohne dass wir ein Wort sprachen. Oft beschränkte sich unsere Konversation auf Befehle zu Handreichungen, wie: «Gib mir den Hammer!», «s’Vreni muss noch gemolken werden.», «Leg ein paar Scheite ins Feuer!»

 

Die wenigen Gespräche, an die ich mich erinnern kann, fanden am Abend am Tisch statt. Ich sehe uns beide am massiven Holztisch, der von Schnitten, Brandspuren und Einschlägen gezeichnet war, einander gegenüber sitzen. Ich auf der Bank an der Wand, Walti auf einem wackligen, selbstgebauten Stuhl. Wir löffelten die Suppe, kauten an einem Stück wochenaltem Brot und blickten vor uns auf den Tisch. Walti fragte mich nach der Schule, ob ich gut mitkäme, was ich denn so lerne, wie die Lehrerin sei. Ich antwortete stockend, froh, dass wir sprachen, aber zu schüchtern, um wirklich von mir zu erzählen. Nach einigen Minuten gingen Walti die Fragen aus, und ich wagte nicht, meine zu stellen. Das Gespräch brach ab und wir versanken in unser gemeinsames Schweigen, jeder in seiner Welt, aus der er ausbrechen wollte. Wir suchten nach einem neuen Anfang, aber die Gespräche fanden nur in unseren Köpfen statt. Es schien nichts wichtig genug, um gesagt zu werden.

 

Fussball auf dem Kollegi-Platz

...... Wir entwickelten unsere eigenen Regeln. Da die begrenzte Feldgrösse keinen rechten Eckstoss zuliess, führten wir die Regel ein «Drei Corner = ein Penalty». Bei den enggesetzten Toren und unserer verbesserungsfähigen Schusstechnik war das eine faire Regel, denn ein Penalty war noch lange kein Tor.

 

So tobten die Fussballschlachten oft stundenlang. Neuzugänge wurden laufend in die Teams integriert, Heimkehrer problemlos ersetzt, Verletzte am Spielfeldrand gepflegt, Schürfwunden und Prellungen mit schmerzverzerrtem Gesicht eingesteckt und überwunden. Nur Bälle, die die Luft verloren, oder die hereinbrechende Nacht konnten uns stoppen. Ich erlebe mich, wie ich nach geschlagener Schlacht unter dem Gitter durchkrieche, verschwitzt und oft mit zerrissenem Leibchen, aufgeschürften Knien, die Hosen voller Grasflecken, durch die Schmiedgasse heimwärts ziehe. Wir sind uns immer noch nicht einig, ob dieser Schuss ein Tor oder ein Schuss an die imaginäre Latte war, ob das Foul durch einen Penalty hätte geahndet werden sollen, sind uns aber sicher, dass wir grossartigen Fussball gespielt haben und unseren Idolen Ballamann, Frigerio, Antenen oder Elsener nur wenig nachstanden. Und trotzdem verloren wir den nächsten Schülermatch, der auf dem Steimättli ausgetragen wurde wieder hoch mit 2 : 8. Auch dafür hatten wir natürlich eine Erklärung oder mindestens einen Schuldigen. Wir waren in unseren Urteilen ungerecht und grausam. Die Stars wurden verehrt, die Schwächeren ausgelacht und nie waren wir sicher, wann und warum wir zu welcher Gruppe gehören würden.

 

Die Lehrerparade

Von der Steintreppe des blauen Schulhauses bis zum Trottoir führte eine etwa zwanzig Meter lange Allee von Kastanienbäumen, die mit Pflastersteinen ausgelegt war. Die Sekundarlehrer trafen sich zu Pausenbeginn am untern Treppenende. Wenn mindestens zwei da waren begannen sie, nebeneinander die Allee Richtung Trottoir zu marschieren. Am Ende machten sie kehrt und marschierten wieder zurück. Dort warteten nun schon weitere Kollegen, die mit ihnen den Marsch aufnahmen. So bildete sich eine Reihe von sechs bis acht Lehrern, die in gleichmässigem Schritt auf und ab marschierten und miteinander sprachen.

 

Auch wenn alle auf der gleichen Höhe marschierten, gab es doch einen klaren Anführer. Dr. Bauer war der einzige, der eine weisse Berufsschürze trug und von allen als die führende Kapazität anerkannt war. Sein Platz war immer in der Mitte, er bestimmte das Tempo, und alle richteten sich automatisch an ihm aus. Besonders auffällig war dies bei Lehrer Zürcher, dem «Ziri Wisel». Er schaute konzentriert auf seinen Kollegen zur Linken oder Rechten und war krampfhaft bemüht, den Gleichschritt zu halten. Nach jeder Wende machte er mit einem kleinen Doppel-Hüpfer einen Schrittwechsel, um wieder den Schritt von Dr. Bauer aufzunehmen, während dieser sich nicht von seinem Gespräch ablenken liess. Für Zürcher schien das Ritual ein ständiger Stress zu sein, aber er legte am meisten Wert darauf. Er wollte dazugehören.

 

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