Kleine Vorrede

von Peter von Matt

 

Sich zu erinnern, ist leicht. Die Erinnerungen aufzuschreiben, ist schwer. Denn was als buntes Durcheinander im Gedächtnis schwebt, muss beim Schreiben in eine Ordnung gebracht werden. Diese Ordnung deutet und bewertet. Zurückdenken können wir, ohne zu richten. Die Erinnerungen erzählen aber heißt, zu Gericht zu sitzen über die Vergangenheit, über sich selbst und über die Menschen, mit denen man einst zusammenlebte. Da sind kaum zwei Sätze nacheinander möglich, ohne dass sich ein Urteil darin versteckte, ein Loben oder ein Verwerfen. Gewiss, oft merkt man es nicht, oder man merkt es erst beim genaueren Zusehen. Aber dass am Schreibtisch immer auch ein Richter sitzt, wenn eine Autobiographie entsteht, das ist nicht aus der Welt zu schaffen.
Man kann sich aus der Affäre ziehen, indem man alles rühmt und herrlich findet. Dann wird die Jugendzeit zur Idylle. Zuckerwatte, wohin man schaut – und ein Verrat an den Leiden und Nöten, ohne die keine und keiner aufwächst. Oder man wirft sich in die Brust und gefällt sich im strafenden Beschuldigen. Das kann dem erwachsenen Autor den Genuss verschaffen, eine Instanz zu sein und es den alten Widersachern endlich zurückzuzahlen. Die Kränkungen, die man als Kind erlebte, sind ja oft langlebiger als die Verletzungen der erwachsenen Zeit.
Wer seine Erinnerungen aufschreibt, sieht sich also vor der schweren Aufgabe, gerecht zu sein. Vielleicht ist diese Aufgabe gar nicht lösbar. Aber wie sich einer dieser Aufgabe stellt, das entscheidet über die Qualität des Buches.
Das Buch von Tony Ettlin ist geprägt vom Willen zur Gerechtigkeit. Es ist unsentimental auf oft erschreckende Weise. Es fällt Urteile, aber es gefällt sich nicht darin. Nie spielt der Autor den Überlegenen. Er ist sich selbst auf der Spur, mit einer grimmigen Sachlichkeit, sich selbst, seinen Eltern und dem Kosmos einer krummen Handwerkergasse im Stans der Fünfziger und Sechziger Jahre. Maßstab ist seine Erfahrung. Diese wird durch keine soziologischen Theorien gefiltert, durch keine psychologischen Deutungsmuster gefärbt. Deshalb ist das Buch so eminent sinnlich. Das Detail steht nicht im Dienst einer Lehre, die es zu illustrieren hätte, sondern ist um seiner selbst willen da. Es wird benannt, weil es wahr ist, weil die Dinge so waren, in harter Tatsächlichkeit, und dem, der sie beschreibt, stehen sie noch immer mit einer Heftigkeit vor Augen, dass man den Gedanken nicht los bringt, der Autor müsse schreiben, um endlich frei zu werden.
Die stärksten Kapitel verdanken sich immer diesem Entschluss, die Tatsachen über die Deutung zu stellen und die scharfe Zeichnung über die Gefühle. Die Beschreibung des alten Bäckerhauses, in das die Familie einzieht, weil der Vater endlich selbständig werden will, Kleinunternehmer und angesehener Bürger, wäre nie so gespenstisch geworden, wenn der Autor den Leser mit den bald grauslichen, bald komischen Fakten nicht allein ließe: So war es. Mach dir selbst einen Reim darauf. Man macht sich seinen Reim darauf – und vergisst es nicht mehr. So wird auch der geheime Kern des Ganzen immer nur am Detail gezeigt und kaum grundsätzlich abgehandelt. Es ist die Ehegeschichte der Eltern, eine schwierige, belastete und für die Kinder quälende Beziehung. Dass Ettlin es sich verbietet, die schleichende Misere kurzerhand auf unterschiedliche Charaktertypen zurückzuführen, ist ein Signal seiner Könnerschaft. Wir erwarten solche Erklärungen und wären zufrieden damit, aber indem er sie uns verweigert, zwingt er uns, selber zu beobachten und nachzudenken. Das Ergebnis ist das bewegende Porträt eines Paars, bei dem der Mann sich gezielt vom Rand her in die besitzbürgerlichen Kreise des Dorfes vorarbeitet, die Frau aber von ihrer bäuerlichen Herkunft nicht loskommt, im neuen sozialen Umfeld kein Behagen findet, die Freude an der Arbeit verliert und doch pausenlos am Werk ist. Wie sich die beiden Seite an Seite auseinanderleben und doch zusammenbleiben, an die Deichsel ihres Unternehmens geschirrt; wie der Mann sich umtut in der Gesellschaft, vergnügt und stets mit einem Auge auf den Interessen des Geschäfts, während die Frau geplagt wird von sozialer Scham, das ist außerordentlich erzählt, Literatur ohne Zweifel.
Ähnlich bedrängend erfährt man die Schilderung des Sommers, den der Bub mit dem schweigsamen Älpler auf der Alp Biel am Fuß des Schwalmis verbringen muss. Da wird nicht über das Wesen der Bergler gefaselt, nicht von archaischen Weltbildern geraunt – da wird nur gezeigt: So war es. Aber was Wildheuen heißt, die Arbeit an den extrem steilen Grasflanken, ihre Gefahren, die Technik, die sie erfordert, und den Mut und die Gelassenheit, das habe ich so noch nie gelesen. Ich bin vor nicht langer Zeit dort oben wieder einmal vorbeigekommen, habe die Hänge hochgeblickt und an den kleinen Tony gedacht mit seinem plötzlichen Schwindelanfall, da streifte mich der Schwindel selbst.
Dieser kleine Tony, ich muss ihn hundertmal leibhaftig gesehen haben in den anderthalb Jahren von Januar 1956 bis Sommer 1957. Es war meine letzte Zeit in Stans. Ich stand vor der Matura und ging täglich mehrmals durch die Schmiedgasse zum Kollegi, meinem Gymnasium, immer an dem kleinen Geschäft vorbei, das jetzt die Ettlins führten, das ich aber schon seit frühster Kindheit kannte. Der Autor dieses Buches ist mir nie aufgefallen; es rannten immer viele Kinder dort herum. Unser Haus war das letzte vor der Schmiedgasse. In der Familie hielt man darauf, nicht Schmiedgässler zu sein, obwohl diese charaktervollste Strasse des Dorfes die unmittelbare Nachbarschaft bildete, obwohl wir jeden Menschen kannten und mit Namen grüßten, der hier wohnte. Und obwohl wir als Kinder, zusammen mit denen aus der Schmiedgasse, eben dort spielten, wo der kleine Tony es tut, am noch offenen Dorfbach, bei der Schmitte und auf den vier steilen Treppen, mit denen der Talboden in den Berghang des Stanserhorns übergeht. Die Fußballer, die die Buben im Buch bewundern, waren meine Klassenkameraden am Kollegi. Ich erinnere mich zwar, dass von «s Ettlis» die Rede war, habe sicher bei der Mutter Ettlin im Vorbeigehen Backwaren gekauft, aber frühere Besitzer des Ladens sind mir besser im Gedächtnis geblieben. Als Kind musste ich dort unzählige Male die Milch holen, musste unzählige Male warten, bis man den verspäteten Bauern mit der Milchbrente am Rücken die Steintreppe heruntertrappen hörte. Ich stand dann in einer Ecke und hörte den schwatzenden Schmiedgassfrauen zu, die sich das Warten lautstark und lachend verkürzten. 13 Jahre Altersdifferenz sind in der Jugend so groß, dass man sich gegenseitig mit Sicherheit nicht zur Kenntnis nimmt.
Vieles, was in diesem Buch berichtet wird, fällt mit meinen Erinnerungen so deckungsgleich zusammen, dass ich beim Lesen oft erschrocken bin. Ich hatte zum Beispiel nicht gewusst, dass in der Stanser Primarschule auch 13 Jahre nach meiner Zeit noch immer so schändlich geprügelt wurde – mit Wissen und Billigung der Geistlichkeit. Der Dorfpfarrer hätte das üble Treiben mit einem einzigen Wort abstellen können, wenn er nur gewollt und seinen Glauben ernst genommen hätte. Anderes erscheint mir gänzlich fremd. Die wilden Kämpfen auf den Schulhöfen gab es in meinen Jahren nicht, und so etwas wie die harte Kinderarbeit, die in dieser Bäckerei drei Minuten von unserem Haus offenbar alltäglich war, kannte ich nur aus den Büchern, die ich gierig und unablässig las. Ich wuchs mit Literatur auf, mit Kunst und Musik; das religiöse Brauchtum lebte ich selbstverständlich mit, bald begeistert, bald stöhnend. Ich war bei den Pfadfindern und wusste, dass die meisten Schulkameraden aus der Schmiedgasse bei den Turnern waren, aber die scharfe soziale Abstufung innerhalb des Dorfes, von der das Buch mehrfach redet, habe ich so nicht erlebt. Die Kinder- und Jugendjahre Tony Ettlins fallen zusammen mit dem wirtschaftlichen Boom der Nachkriegszeit. Diese Konjunktur hat vieles verändert. Die Landschaft um Stans, die bis in die Sechzigerjahre hinein noch geschlossen bäuerlich war, mit schönen Höfen, Nussbaumalleen und weißen Kapellen, wurde überzogen von hässlicher Zufallsarchitektur. Aber es verschwand auch die Armut, die nach dem Krieg noch vielerorts unverdeckt in Erscheinung trat. Unternehmungslustige hatten nun Chancen wie noch nie. Auch das Regime der Kirche zeigte erste Risse. Das Buch von Tony Ettlin ist ein Zeugnis dieses Prozesses, ein Zeugnis von innen, aus einer einzelnen Familie heraus. Vieles, was hier erzählt wird und scheinbar ganz privat ist, erscheint heute beispielhaft für die ganze Epoche.

 

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